In den nächsten Wochen wird es einige Artikel über einige Prinzipien im Neo Tantra geben und wie wir sie hier bei GayLoveSpirit betrachten.

Meine ersten Begegnungen mit Tantra in den 90ern waren natürlich alle in Hetero-Workshops, mit Hetero-Leitern und Hetero-Teilnehmern.

Mein Boyfriend und ich waren die einzigen schwulen Männer, und wir waren bei den Frauen sehr begehrt als Spielpartner, konnten sie uns doch vertrauen weil wir bestimmt nicht übergriffig wurden.

 Die Facilitators waren uns gegenüber sehr offen. Die traditionelle Tantra-Philosophie sieht selbstverständlich nur Frauen und Männer vor. Aber genauer hingeschaut: Es geht um Rollen und um Eigenschaften, die gemeinhin mit den Attributen männlich und weiblich verbunden werden. 

 Normalerweise ist unser menschlicher Bewusstseinszustand in einer Dualität, so dass wir die Realität als du und ich, positiv und negativ, schwarz und weiß, heiß und kalt erleben.  Wenn wir uns zur Nondualität bewegen, kommen wir ins Bewusstsein der Einheit. Viele von uns haben das natürlich auch schon einmal bei spirituellen Reisen oder beim Konsum gewisser Substanzen erlebt.

Daher sind Polarität und „heilige Vereinigung“ in einem tantrischen Ritual grundlegende Prinzipien im Tantra. Aus dem Bewusstsein der Einheit, oder Gott, entsteht die Zweiheit, oder Dualität. Diese beiden Phänomene werden Shiva und Shakti genannt. Shiva steht für das Prinzip des reinen Bewusstseins und der Ausrichtung, und Shakti, das Prinzip der Energie, Kraft und Manifestation.

 In der spirituellen Dimension der Sexualität und im sexuellen (roten) neo-Tantra erreichen wir die Einheit, wenn Shiva und Shakti eins werden und sich durch absichtliche Praktiken, Rituale und Liebesspiele vereinen. David Deida (Finding God through Sex) beschreibt diese Dualität als die Ufer eines Flusses – „Shiva“ – und das darin fließende Wasser – „Shakti“. Die Ufer halten den Fluss auf, aber der Fluss zerschneidet auch die Ufer.

 Schauen wir uns jetzt näher das Feld der Polaritäten an. Wir können weiter kategorisieren:

„Weiblich“„Männlich“
YingYang
Harmonisierend, aufnehmend Zielgerichtet
Friedvoll                                        Kämpferisch
ShaktiShiva
FlowingStaccato

Etc. etc.

Wenn wir in einer Welt aufwachsen, welche durch die traditionellen Werte des 19. und 20. Jahrhunderts definiert war, identifizieren wir uns allzu leicht mit der linken Seite, wenn wir einen Penis tragen, und mit der rechten Seite, wenn wir eine Vagina haben. Alle Mischformen werden dann meistens mit Gewalt in eine der Schubladen gesteckt.

Sobald wir uns auf den Weg der Selbsterfahrung begeben, merken wir, dass die Kategorisierungen nur dazu nützlich sind, bestimmte Momente zu beschreiben. Wir befinden uns permanent in einem immerwährenden Fluss – mag das körperliche Geschlecht ein statischer Zustand sein (mit dem Zusatz, dass Skalpell und Hormonbehandlungen auch diesen verändern können), so sind alle energetischen und emotionalen Charakterisierungen ständig fließende Momentaufnahmen. Als Kung-Fu Kämpferin kannst Du ein zweistündiges, hartes, „männliches“ Training absolvieren und danach dein Baby an der Brust stillen.  Wir leben in einem ständigen Wechsel von Energieflüssen, welcher permanent von vielen Faktoren beeinflusst wird: Die äußere Umgebung (Dinge, Wohnungen, Fahrzeuge, Landschaften, Wetter, andere Lebewesen, Essen), Menschen (Kollegen, Freunde, Liebhaber, Geliebte, Partner, Verwandte, etc.) welche Emotionen hervorrufen, Schlaf, Hormone, Denkmuster, alles Sinnliche (Farben, Gerüche, Klänge, etc.) und natürlich den Wechselwirkungen, welche in den Begegnungen und Handlungen mit anderen Menschen entstehen.

Hast du einmal 5 Rhythmen getanzt, dann hast Du Dich durch die einzelnen Phasen, die sich leicht mit den Kategorien verbinden lassen, tanzend hindurchbewegt.

Vielleicht sind diese Kategorien manchmal nützlich, um ein Phänomen zu beschreiben. Wenn Du Dich als Penisträger mit der linken Seite identifizierst und als Vaginainhaberin mit der rechten, ist das Dein Recht, aber diese gedankliche Wahl wird zu einer sehr starken Selbstbeschränkung führen und widerspiegelt nicht die natürlichen Gegebenheiten. Diese Wahl kreiert einen Mythos.

In der heteronormativen Tantrawelt wird eine Frau und ein Mann benötigt, welche dann in den Shakti/Shiva Rollen in das jeweilige Ritual einsteigen. In der Regel wird hier für ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis gesorgt, weil nach dieser Denkweise für jedes Ritual ein Penis und eine Vagina benötigt werden. Hier wird also der zweite Mythos geboren.

Unsere Erfahrungen aus dem 21. Jahrhundert sagen etwas anderes. Es ist natürlich, neo- tantrische Begegnungen in einem Frau-Frau-Paar oder in einem Mann-Mann-Paar oder in anderen LGBTQIA+ -Konstellationen zu zelebrieren. Diese vielfältigen Erfahrungen widerlegen Mythos 2.