In den vergangenen 20 Jahren hat sich für die LGBTIQ+ einiges getan. Am Ende des Weges sind wir damit noch lange nicht angekommen. Das es knapp 20 Jahre gedauert hat eines der führenden wissenschaftlichen Werke rund um männliche Homosexualität ins Deutsche zu übersetzen, stellt dies nur einmal mehr unter Beweis. Der französische Soziologe Didier Eribon, der mit seiner „Rückkehr nach Reims“ auch einem breiteren deutschen Publikum bekannt wurde, widmete sich bereits in den 90ern noch heute relevanten Fragen um das Auf- und Heranwachsen schwuler Männer, zwischen Scham und Hass. „Les réflexions sur la question gay“ oder zu Deutsch „Betrachtungen zur Schwulenfrage“ ist nicht nur strukturell informativ, sondern kann durchaus geeignete Bettlektüre sein, um sich selbst ein bisschen näher zu kommen und der Frage nach dem eigenen Ich.
Wer sich der akademischen Welt eher weniger verbunden fühlt, sollte sich durch Eribon nun wirklich nicht abschrecken lassen. Durchaus sind seine persönliche Nähe, als auch seine intellektuelle Anlehnung an Foucault wichtiger Bestandteil dieser Lektüre, aber auch für die Literaten unter uns fährt Eribon ordentlich auf. So bezieht er sich immer wieder auf den Großmeister geschliffener Aphorismen Oscar Wild, der mit seiner Literatur, als auch seine Biografie ganze Massen begeistert. Ihm folgt André Gide, der sich vor allem zu Beginn des 20. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute und mit seinem eher unbekannten Werk „Corydon“ den Weg eines modernen Denkens über Homosexualität ebnete. Zugegeben ist der latent griechisch-platonische Ansatz den Gide wählte heute wohl eher veraltet, aber wer wissen möchte wo er hingeht, muss auch manchmal einen Blick auf den Weg werfen, der hinter ihm liegt.
In Zeiten toxischer Maskulinität und Hypersexulisierung darf natürlich eines nicht fehlen: Der Sex. Aus Angst vor Homophobie sträubt sich Eribon zwar wohl bis heute seinen Partner in der Öffentlichkeit zu berühren, in seinem Werk jedoch überlässt er uns bisweilen tiefe Einblicke in sein manchmal nicht ganz so privates Sexleben. Ohne die Wissenschaft aus den Augen zu verlieren, erörtert Eribon kunstvoll die Entstehung schwuler Orte, Safe Spaces und öffentlichem Sex. Folgt man ihm des Nachts entlang der Seine, so wird man mancherorts von einer stark männlichen Klientel überrascht, die in Büschen verschwindet oder auf öffentlichen Toiletten. Woher der Hang zu Aborten und woher das Bedürfnis nach sicheren Räumen? Die Betrachtungen und seine Rückkehr geben Aufschluss über die Entstehungsgeschichte dessen, was wir heute leben: Schwule Kultur.
Durch das gesamte Werk ziehen sich die Fragen nach Hass und Scham im Innen, wie im Außen. Ob es nun die Betrachtungen von Foucault, Wilde oder Gide sind, von Proust, Whitman oder eben Eribons ganz eigenen, eins haben sie gemein: Sie suchen zu erörtern, was wir als schwule Männer heute leben. Nicht zuletzt verdanken wir es eben auch den Dichtern und Denkern von weit her gekommen zu sein. Richter und Henker sind dabei aber nicht nur die klare Opposition der LGBTQI+, sondern häufiger noch wir selbst. Viele Namen hat man uns im Laufe der Zeit gegeben und obwohl wir einige davon überkommen konnten, zersetzen wir uns selbst und gegenseitig mit eben jenen Bezeichnungen, die man uns auferlegte.
Während Gide zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Päderastie noch für die einzige Form der „normalen“ Homosexualität hielt und damit als modern galt; Proust es nicht wagte das Pronomen „Ich“ zu nutzen und Eribon erst nach dem Ableben seines Vaters zu neuem Leben erwacht, sollte man doch meinen das wir in 2020 doch breitere Freiheiten genießen. Um so erschütternder zu sehen das dem nicht so ist. Exhibitionismus ergreift eben nicht nur die Freiheit des Körpers, sondern (leider) auch die Freiheit schändlichen Gedankengutes. Ein Blick auf unsere gemeinsame Geschichte, wäre nicht nur lehrreich sondern hoffentlich auch verbindend. Dieser Appell ist nicht als Zwang zu verstehen, einen Uniformlook zu kreieren. Viel mehr sagt mir ein Barthes’sches Denken zu.
Die Archipel-Literatur Barthes, ist auch inhaltlich ein must-read, hier soll es aber eher um das Außen gehen. Ein Archipel ist eine Inselgruppe die besonderes (literarisches) Augenmerk verdient. Jede Insel stellt ein ganz eigenes Ökosystem dar, quasi ein Individuum. Diese Ökosysteme stehen wiederum in klarer Verbindung mit ihren Schwesterinseln in ihrer eigenen Gruppe. In bestimmten Bereichen herrscht ein reger Austausch, andere bleiben voneinander getrennt. Wenden wir das auf uns selber an, sollte uns schnell klar werden, das unsere eigene Individualität nicht korrumpiert wird durch andere, als nicht viel mehr bereichert. Unsere eigenen Ökosysteme funktionieren nicht ohne die Anderen. Manchmal brauchen wir jemanden, der sich für uns erhebet. Manchmal brauchen wir jemanden, der uns vorführt wer wir sind und sein können. Manchmal brauchen wir jemanden!
Eribon und seine Vorgänger, geben keinen Vorschlag zu einem „Wie“, aber sie liefern Ansätze zu einem „Warum“. Wenn du das nächste Mal also im Bett liegst und darüber nachdenkst wer du bist, dann spüre in dich hinein.
Keiner von uns ist eine einfache Insel. Wir sind ein Archipel.
Schreibe einen Kommentar